Verweigert und Verspätet. NS-Verfolgte und ihr Kampf um Anerkennung und Entschädigungen

19. Jahrestagung, 22. bis 24. September 2017

Tagungsbericht bei HSozKult

Resolution: NS-Verfolgte helfen, Entschädigungen garantieren, Verfahren erleichtern, 24. September

Resolution: Supporting Nazi Persecutees, Guaranteeing Compensations, Facilitating Procedures
September 24, 2017

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland markiert das Luxemburger Schuldenabkommen vom 10. September 1952 über die Zahlung von „Wiedergutmachung“ für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden an Israel und die Jewish Claims Conference einen wichtigen Schritt hin zu internationaler Reputation. Zugleich fügt sich dieses Abkommen ein in eine Politik der Ausgrenzung anderer, die in der NS-Zeit unermesslich unter Verfolgung, Ausbeutung und Erniedrigung zu leiden hatten.
Im Kontrast dazu fiel es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nicht schwer, über den Lastenausgleich, die massenhafte Wiederverbeamtung von Funktionsträgern und andere Maßnahmen den Angehörigen der ehemaligen Volksgemeinschaft, den großen und kleinen Profiteur*innen des Raubkriegs, den Weg zu Demokratie und westlichen Werten zu ebnen.
Die Geschichte der (verweigerten) Anerkennung verschiedener Verfolgtengruppen ist seit mehr als sieben Jahrzehnten auch ein juristischer Kampf um Begriffe und Definitionen. Dabei spielt der Tod der Betroffenen durch Alter, Krankheit und Spätschäden den politisch Verantwortlichen in die Hände: Die meisten würden die offenen rechtlichen, politischen und moralischen Fragen gerne noch immer aussitzen. Zwangsarbeiter*innen, Zwangssterilisierte, Überlebende der Ghettos, Sinti und Roma, Deserteure, Kriegdienstverweigerer, Kriegsgefangene, Menschen, deren Angehörige bei Massakern oder im Rahmen der „Euthanasie“ ermordet wurden, Homosexuelle, als „asozial“ Verfolgte und zahlreiche andere Gruppen, viele davon außerhalb Deutschlands, haben bis heute wenig oder nichts als Ausgleich für ihre Verfolgung erhalten.
Nicht-NS-spezifische-Verfolgung – Staatliche Ordnungsmaßnahme – Gewöhnliche Kriegsfolge – Allgemeine Kriegsschäden: So lauten einige Begriffe, über die politisch und juristisch gestritten wird. Gerichte trugen und tragen ihren Teil zur fortgesetzten Diskriminierung bei.
Auf unserer Tagung wollen wir die juristischen Kämpfe um Anerkennung und die Strategien der Verdrängung seit 1945 in einem europäischen Kontext analysieren. Zugleich wollen wir diskutieren, welche Wege jenseits der klassischen Instrumente des Entschädigungsrechts beschritten werden können, um den hochbetagten Verfolgten und ihren Angehörigen eine – wenn auch viel zu späte – Anerkennung zu verschaffen: nicht nur symbolisch und politisch, sondern auch materiell und rechtlich.

Freitag, 22. September 2017
Begriffe – Menschen – Verfahren

Dr. Gerd Hankel (Hamburger Institut für Sozialforschung)
Die allmähliche Wahrnehmung des Opfers – Der völkerrechtliche Rahmen einzelstaatlicher Entschädigungsentscheidungen

Dr. Jost Rebentisch (Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V., Köln)
Entstehungsgeschichte und Kontext der (Nicht-) Entschädigungen für NS-Verfolgte
PDF zum Download

Diskriminierende Verwaltungspraxis und fortgesetzte Verfolgung

Dr. Christine Fischer-Defoy (Kuratorin, Berlin)
Einführung zur Ausstellung Verfahren. »Wiedergutmachung« im geteilten Berlin, Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e.V.

Zeitzeugengespräch mit Horst L. (Münster)
Moderation: Anja Reuss (Berlin)

Samstag, 23. September 2017

Realitäten der Entschädigungspraxis

Leander Beinlich (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg)
Staatshaftung im bewaffneten Konflikt

Rechtsanwältin Gabriele Heinecke (Hamburg)
Staatenimmunität als Argument – Die Rechtsprechung des Aeropag, IGH und des italienischen Corte Costituzionale,

Die Kontinuität der Volksgemeinschaft

PD Dr. Thomas Henne (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Universität Luzern)
Alles Opfer – keine Täter? NS-Verfolgte und die Entschädigung der Mehrheitsgesellschaft in den 1950er Jahren,

Inländische „vergessene“ Verfolgtengruppen

Margret Hamm (Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, Berlin)
Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte – Im Niemandsland zwischen Rechtsanapruch und gesellschaftlicher Anerkennung
PDF zum Download

Verfolgte jenseits des Bundesentschädigungsgesetzes

Allegra Schneider (Filmemacherin, Bremen), Jan Sürig (Rechtsanwalt, Bremen)
Zur Lage der Roma in den Balkanstaaten, Vortrag und Videodokumentation,

Ingolf Spickschen (Rechtsanwalt, Salzgitter) und Michael Plöse (Humboldt-Universität zu Berlin)
„Arbeitsgruppe Offene Entschädigungsfragen“ des Forum Justizgeschichte e.V.
(veröffentlich in RAV, Infobrief 114/2017)

Kommentar: Jan Sürig (Rechtsanwalt, Bremen)

Mitgliederversammlung

Sonntag, 24. September 2017

Handlungsbedarf und Handlungsspielräume

Ursula Scheurer (Richterin Sozialgericht Hamburg), Dr. Avraham Weber (Rechtsanwalt, Tel Aviv)
Podiumsdiskussion: Ghettorenten vor den Sozialgerichten
Moderation: Dr. John Philipp Thurn (Sozialgericht Berlin)

Margret Hamm, Dr. Jost Rebentisch, Ralf Oberndörfer (Forum Justizgeschichte e.V.)
Fishbowl-Diskussion: Resolutionsentwurf der „AG Offene Entschädigungsfragen“ – Vorstellung und Diskussion

Abschlussrunde

Die Tagung wurde gefördert durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.