NS-Verfolgten helfen, Entschädigungen garantieren, Verfahren erleichtern
Resolution vom 24. September 2017
„Verweigert und Verspätet – NS-Verfolgte und ihr Kampf um Anerkennung und Entschädigungen“. Dies war das Thema der 19. Jahrestagung des Forum Justizgeschichte e.V. vom 22. bis 24. September 2017. Als Vertreter*innen von NS-Verfolgten-Organisationen nahmen teil: Margret Hamm (Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, Berlin) und Dr. Jost Rebentisch (Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V., Köln).
Die Tagung schloss mit der Erarbeitung der nachfolgenden Resolution.
An die Mitglieder des 19. Deutschen Bundestags!
An die Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Regierungskoalition!
Der 10. März 1965 wird gerne als „Sternstunde des Parlaments“ bezeichnet. An diesem Tag verhinderte der Deutsche Bundestag zum ersten Mal die Verjährung von Mord für NS-Straftäter. Die Debatte brachte Gerhard Jahn (SPD) auf den Punkt: „Soll das ungeheuerliche Ausmaß an Verbrechen […] einfach nur mit juristischen Fragen beantwortet werden oder sind wir aufgefordert, […] eine politisch-moralische Entscheidung zu treffen?“ Heute lässt sich feststellen: Die beschränkte Außerkraftsetzung der Verjährungsregelung hat einen überlebenswichtigen gesellschaftlichen Lern- und Aufarbeitungsprozess unterstützt.
Eine solche moralisch-politische Grundsatzentscheidung wäre auch bei der Entschädigung von NS-Verfolgten unverzichtbar gewesen. Doch während deutsche Kriegsopfer sowie ausländische Kombattanten in Wehrmacht und Waffen-SS großzügig entschädigt wurden, unterläuft die Bundesrepublik ihre Pflicht zu zivil- und sozialrechtlichen Zahlungen an NS-Verfolgte seit 70 Jahren. Jede Normierung von Ansprüchen für einige wenige bewirkte zugleich den Ausschluss vieler anderer Verfolgter, insbesondere für solche außerhalb Deutschlands. Eine Zahlung durfte nie ein Schuldeingeständnis sein.
In der Folge gründeten sich in der Bundesrepublik mehr als 30 Verfolgten- und Opferverbände, deren Mitglieder seit Jahrzehnten unbeirrbar um rechtsverbindliche Anerkennung und Entschädigung kämpfen. Die politisch Verantwortlichen trieben die Verfolgten in eine „Opferkonkurrenz und -hierarchie“ und bereiteten ihnen damit erneute Demütigung.
Heute wird von den politisch Verantwortlichen ignoriert, dass Parlamente und oberste Gerichte in Ländern wie Polen, Italien und Griechenland, mit denen Deutschland trotz der Massenverbrechen des Zweiten Weltkriegs enge Beziehungen verbinden, ein Aussitzen der offenen Entschädigungsfragen nicht mehr mitmachen.
Wo Entschädigung vorgesehen ist, gestalten sich die Verfahren für die Betroffenen oftmals entwürdigend. Die letzten Verfolgten sind gegenwärtig bei der Beantragung von Entgeltzahlungen nach dem „Ghettorentengesetz“ (ZRGB) genötigt, glaubhaft zu machen, dass sie als Kinder in Ghettos „aus eigenem Willensentschluss“ und „gegen Entgelt“ beschäftigt waren.
Es ist Zeit für eine weitere „Sternstunde des Parlaments“: Der Bundestag muss schnellstmöglich eine möglichst leidensfreie und würdevolle Entschädigung der noch lebenden NS-Verfolgten weltweit einleiten. Er muss Maßnahmen ergreifen, damit auch die zweite und dritte Generation, die massiv unter den Auswirkungen der Verfolgung ihrer Eltern und Großeltern leiden, Anerkennung und Genugtuung erhalten. Es gibt einen Zusammenhang zwischen verweigerter Entschädigung gestern und seelischer und wirtschaftlicher Not heute. Diese zu lindern gehört zur Verantwortung für die Menschheitsverbrechen des NS-Regimes. Das Forum Justizgeschichte e.V. und die unterzeichnenden Verfolgtenverbände fordern daher:
Als Sofortmaßnahmen:
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Die förmliche Gleichstellung der Verfolgten, insbesondere der Angehörigen der „Euthanasie“-Opfer, die durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von Zahlungen ausgegrenzt wurden, mit denen, die nach dem BEG Zahlungen erhalten haben.
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Verbesserte Verfahrensregeln: Wegfall der Ausschlussfristen für Entschädigungsanträge; Vereinfachung der Beweislastregeln im ZRBG; automatische Anerkennung eines Verfolgungsschicksals bei Sinti und Roma, wenn sie sich in der NS-Zeit im deutschen Machtbereich aufgehalten haben; Krankenversorgung für Hinterbliebene von Bezieher*innen einer BEG-Rente über mindestens sechs Wochen analog der Regelung nach dem Bundesversorgungsgesetz; Absenkung der Anforderungen an eine verfolgungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 50% als Voraussetzung für Gewährung einer Beihilfe.
Als zeitnahe strukturelle Verbesserungen:
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Die Schaffung eines ausreichend ausgestatteten Fonds, der durch die Verfolgtenverbände selbständig verwaltet wird, eine Victims‘ Claims Conference. Der Fonds ersetzt die Verfahren im Sozial- und Entschädigungsrecht und koordiniert seine Tätigkeit mit dem Bundeskanzleramt an Stelle des Bundesfinanzministeriums. Zahlungen aus dem Fonds dürfen nicht zu Kürzungen anderer Ansprüche führen.
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Eine europafreundliche Neubewertung des Arguments der Staatenimmunität angesichts der Opfer von SS- und Wehrmachtsmassakern in Italien, Griechenland und anderswo, die als Folge der vermiedenen Reparationen nach 1945 und 1990 bis heute (fast) keine Unterstützung von Deutschland erhalten haben.
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Eine Regelung der Reparationsansprüche europäischer Staaten. Dabei ist darauf zu achten, dass die in diesen Ländern lebenden Verfolgten, insbesondere ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen in Polen und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die für sie gedachten Mittel auch erhalten.
Als sofortige zivilgesellschaftliche Maßnahmen:
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Die Schulung des juristischen Personals zu den historischen Hintergründen und kommunikativen Anforderungen in entschädigungsrechtlichen Fragen, ferner dienstliche Fortbildungen von Entscheider*innen in Asylverfahren zu den Lebensbedingungen von Roma in ihren Herkunftsländern durch ortskundige NGO.
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Die Unterstützung von Angehörigen der zweiten und dritten Generation der Verfolgten, insbesondere für Sinti und Roma. Dazu gehören auch Maßnahmen außerhalb des klassischen Entschädigungs- und Sozialrechts, insbesondere die Anerkennung vielfach diskriminierter Roma als Kontingentflüchtlinge sowie verbesserte Bildungsangebote.
Das Forum Justizgeschichte e.V. widmet sich seit 1998 der Erforschung und Vermittlung des Rechts und der Justiz im demokratischen Rechtsstaat. Wir laden weitere Interessenvertretungen von NS-Verfolgten ausdrücklich dazu ein, sich dieser Resolution anzuschließen.
Forum Justizgeschichte e.V., Berlin • Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, Berlin • Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V., Köln • Verbond Belangenbehartiging Vervolgingsslachtoffers (Verband Interessenvertretung der NS-Opfer, Niederlande)